Leserbrief zum Artikel „Sieg des Triebs“ in Spiegel Nr. 46/2016

Wer Leo Löwenthals Analyse der faschistischen Agitation im Amerika der 30er und 40er Jahre kennt, wird vieles im Artikel wiederfinden: dass der Agitator von seinen Anhängern hysterische Ausbrüche geradezu einfordert und dann gezielt verstärkt, dass im Publikum den Wunsch nach Aufgabe jeglicher Tabus bestärkt, dass er ihnen mit dem Pogrom Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht verspricht. Trumps Erfolg belegt eindrucksvoll, wie „an Selbsthass und Selbstverleugnung gewöhnte Menschen […] sich zum Narzissten herangezogen“ fühlen und der (proto-)faschistische Agitator eine Mischung aus Witzfigur und Held ist, gleichzeitig unerreichbar hoch über den Leuten thronend und doch mit denselben Problemen wie sie.
Während der Artikel richtig aufzeigt, dass Trumps Anhänger in ihrem Verhalten immer noch Kindern ähneln, stoppt er seine Analyse an der entscheidenden Stelle: Die Frage, warum sie nie erwachsen geworden sind, bleibt unbeantwortet. Scheinbar hätten Trump und seine Fans bloß alle einen Vater gebraucht, der hart durchgreift und konsequent bestraft, dann wären sie jetzt nicht so unkontrolliert. Doch der Erfolg Trumps hat seine Gründe nicht einfach in zwar massenhaft auftretenden, aber doch individuellen psychischen Problemen. Es ist keine Lust, die eigenen Regungen beständig niederzuringen und sich unter Kontrolle zu haben, aber es lohnt sich, weil man ohne nicht vorankommt. Verspricht aber selbst die totale Herrschaft über die eigenen Triebe keinen ökonomischen Erfolg mehr, kann man es auch sein lassen mit dem Erwachsenwerden. Als „kleiner Mann“ kommt man eh nicht nach oben, wenn der Markt es nicht hergibt (das vielzitierte Ende des amerikanischen Traums). Im Kapitalismus des Amerikas von 2016 lohnt sich Triebkontrolle einfach nicht mehr. Und woher sollen Eltern die nötige Autorität für eine vernünftige Erziehung nehmen, wenn sie selbst nur gescheiterte Existenzen in einer Wirtschaft sind, die sie nicht braucht und vermutlich nie wieder brauchen wird? An der Stelle verbinden sich auch die Gründe für die geistige Verfassung der Trump-Fans mit Hillary Clintons Angebot des „Seht her, so weit kann man es bringen, wenn man tüchtig agiert und erwachsen ist“. Wenn das nicht schon immer eine Lüge war – stets kurz davor, als solche enttarnt zu werden – dann doch zumindest heutzutage. – Uund niemand scheint sie mehr zu glauben.

Und leider wird der Artikel geradezu zynisch, wenn er Trumps Anhängern vorwirft, sich mit dieser Gesellschaft, in der der Einzelne noch nicht mal Rädchen im Getriebe, sondern völlig funktionslos und jederzeit ersetzbar geworden ist, nicht mit der gebotenen Teilnahmslosigkeit zufrieden zu geben.

Zum Artikel:
https://magazin.spiegel.de/SP/2016/46/147864069/index.html

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